Fotografie

Recent Topographics

Ausstellung in der vhs-photogalerie stuttgart

23.02.2024 bis 05.05.2024

Rundgang

Folgt

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Einführung Christian Gögger

Rainer Zerback ist gelernter Fotograf, ein Lichtbildner, der das fotografische Handwerk beherrscht.

Die Ausstellung in der vhs-photogalerie in Stuttgart zeigt in einer sehr umfangreichen Werkschau über sechzig Arbeiten, die wesentlich aus zwei Werkkomplexen stammen: Places of Interest (seit 2013) und Contemplationes (2000 bis 2023). In Serien über lange Zeiträume zu arbeiten ist eine kennzeichnende Herangehensweise von Rainer Zerback. Er schafft damit ein breites Konvolut an Bildern, das intensiv ein Thema durchdringt und sich dem intendierten Erzählmotiv vielseitig zuwendet.

Seine Bildproduktion nutzt alle möglichen fotografischen Mittel und Techniken. Den für alle seine Aufnahmen kennzeichnenden erhöhten Standpunkt auf die Szene erreicht er mithilfe eines sieben Meter hohen Stativs. Die darauf angebrachte Kamera steuert und bedient er vom Boden aus digital. Gerade für die Bildserie Places of Interest schießt er, teilweise über mehrere Stunden, hunderte Aufnahmen, um vom selben Ort verschiedenste Zustände der Begehung und Befahrung touristischer Hotspots einzufangen. Aus diesem umfangreichen Bildmaterial generiert er ein oder nur wenige künstliche Bilder, man kann sie gut als Wimmelbilder bezeichnen. Ein Bild, das aus hunderten von Aufnahmen besteht, ist eigentlich einem Film nicht unähnlich. Jedoch ist hier jegliche Chronologie aufgehoben, der Moment der Aufnahme ohne Relevanz. Die Bilder sind nicht mehr zeitbasiert nacheinander, sondern geschichtet hintereinander. Wenn man so will, könnte man sie sich in dieser Form raumbasiert vorstellen.

Es gibt zwei Referenzen, die es maßgeblich zu erwähnen gilt. Schon im Titel Recent Topographics angelegt ist der Bezug zu den Fotografen des New Topographic Movement um die Mitte der 1970er Jahre, mit den Protagonisten u. a. Robert Adams, Stephen Shore, Lewis Baltz, Bernd und Hilla Becher. In ihren Aufnahmen wird Landschaft nicht mehr intakt idealisiert, sondern ihre Strapazierung durch das Alltägliche wird hervorgehoben: monotone Siedlungen, Straßenkreuzungen, Tankstellen, Industriegebiete, Brachlandschaften. Diese neue fotografische Ästhetik stellt die verzweckte, pragmatisch gebrauchte Landschaft in den Mittelpunkt und schafft eine bildliche Gegenkultur zum Natürlichen.

Von Bedeutung für das Verständnis der Arbeiten von Rainer Zerback scheint mir aber auch die inhaltliche Nähe seiner Bildproduktion zu dem großartigen italienischen Fotografen Luigi Ghirri. Dessen farbige Landschaftsfotos, in vorwiegend gedeckten Farben, erscheinen auf den ersten Blick surreal, besser noch metaphysisch. Menschenleer, sind lediglich deren Eingriffe und Spuren als Protagonisten in den Fotografien auszumachen. Rainer Zerback spitzt diese menschliche Absenz in der Bildserie Contemplationes insofern zu, als er das Personal verschwinden lässt, es aus dem Bild nimmt. Wie in einem filmisch-fiktionalem Szenario scheint auch bei ihm das Anthropozän an sein Ende gekommen.

Diese Beispiele mögen dazu dienen, Traditionslinien aufzuzeichnen, Bezüge in der jüngeren Fotografiegeschichte herzustellen. Rainer Zerbacks Fotografie geht trotz mancher Ähnlichkeiten noch einige Schritte weiter. Für beinahe alle gewöhnlichen fotografischen Vorgaben – von der Aufnahme bis zur Bildgebung – ändert er die Parameter. Wenn Luigi Ghirri nach der Einzigartigkeit seiner Motive noch individuell sucht und diese schließlich findet, so generiert und erfindet Rainer Zerback seine Bilder. Das beginnt bei der Anbringung der Kamera auf einem Stativmast – ohne physischen Kontakt mit Sucher und Auslöser –, der mannigfachen Bildbearbeitung, den farblichen Manipulationen und Verfremdungen. Die üblichen fotografischen Verfahren werden größtmöglich abgewandelt und damit sind auch alle scheinbaren Gewissheiten zum Wesen der Fotografie außer Kraft gesetzt. Die Bilder Rainer Zerbacks zeichnet eine eigene, erfundene Bilderzählung aus. Sie besitzen kein Pendant in der Realität. Sie verlangen dem Betrachter eine je eigene Sehgewohnheit ab.

So stellt sich auch gemeinhin die Frage nicht, ob die vorliegenden Fotografien der Kunst zuzurechnen sind. Rainer Zerback verfügt über seine fotografischen Produktionsmittel virtuos, reflektiert, unkonventionell. Seine Bilder sind imaginiert, generiert, komponiert und folgen einer sehr persönlichen ästhetischen Auffassung einer transformierten Wirklichkeit: demnach ist Rainer Zerback ein Künstler.

Christian Gögger, Februar 2024

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SWR 2, Kultur Aktuell - 24.02.2024

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